Ein Konzept, auf das wir uns in der Gestaltberatung ganz grundlegend beziehen, ist die Dynamik von Hintergrund–Figur–Vordergrund: Wenn uns etwas anregt, sei dies aus einem Bedürfnis oder aus einem Interesse heraus, dann bildet sich vor unserem gegenwärtigen Hintergrund (d.h. unserer Biografie, unserer Erfahrung, unserer alltäglichen Situation und Grundverfassung, unserer Gewohnheiten und Muster etc.) eine entsprechende Figur heraus. Diese Figur gelangt nun in den Vordergrund unseres Gewahrseins und bindet da unsere Aufmerksamkeit und Energie, damit wir uns mit ihr auseinandersetzen. Für dieses Prägnant-werden im Vordergrund resp. die ganze Dynamik von Hintergrund–Figur–Vordergrund verwenden wir den Begriff «Gestalt». Gestalten sind komplex und stetig in Bewegung.
Sobald wir uns der Figur im Vordergrund auf eine für uns sinnvolle Weise annehmen und zuwenden konnten, und erst dann, kann sie sich in den Hintergrund zurück auflösen resp. integriert werden. Wir sind dann nicht nur um eine Erfahrung reicher – und um diese quasi gereift –, sondern wieder frei und empfänglich für den nächsten Ablauf dieser Art. Es kann sich dabei um einen sehr kurzen Prozess handeln, z.B. ein Hungergefühl und dessen Befriedigung, oder es kann um länger dauernde Prozesse gehen, z.B. Aspekte einer Beziehung. Kann eine Figur nicht zufriedenstellend in den Hintergrund entlassen werden, taucht diese immer wieder auf und bindet unsere Aufmerksamkeit und Energie wiederholt als ein «nicht abgeschlossenes Geschäft» resp. eine «noch offene Gestalt».
So leben wir als uns selbst regulierende Organismen in einem Organismus-Umwelt-Feld, in einem fortwährenden Fluss aus sich öffnenden und schliessenden Gestalten. Wird dieser Fluss blockiert, gerät unser Lebensprozess ins Stocken, wir stecken fest.
Wann eine Psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen?
Als ich selbst vor Jahren eine Beratung aufsuchte, machte die Beraterin mich auf die beiden «L» aufmerksam, die uns Menschen zu Veränderung antreiben würden. Das eine «L» stehe für «Leiden», das andere für «Lust».
Beim Leiden denke ich an den oben beschriebenen Lebensprozess, der ins Stocken geraten ist. Ganz verständlich, dass Fragen aus den Spannungsfeldern «Leben/Vergänglichkeit/Sterben», «Einsamkeit/Beziehung», «Ohnmacht/Handlungsmöglichkeiten/Freiheit» und «Sinnlosigkeit/Sinnfindung» jede und jeden von uns immer wieder beschäftigen. Es ist auch normal, dass wir ab und zu unsere Bedürfnisse nicht recht erkennen oder einordnen können, im Umgang mit unseren Mitmenschen an Grenzen stossen oder in einer Beziehung an einen schwierigen Punkt gelangen. Wenn uns ein äusseres Ereignis aus der Bahn wirft und wir die offene Gestalt nicht sinnvoll zu schliessen vermögen, kann eine Psychosoziale Beratung Entlastung bringen ... und den Lebensprozess wieder in Gang.
Und es gibt die Lust – Lust auf Entfaltung, auf Entwicklung, auf Veränderung. Hier können ebenfalls Figuren in den Vordergrund gelangen, Gestalten sich öffnen. Vielleicht fühlen wir uns dazu inspiriert, uns zu fragen: «Was ist meine Rolle, mein Beitrag? Was verleiht meinem Leben Sinn?» Oder: «Wie navigiere ich durch eine komplexe, ungewisse Welt mit beschränkten Ressourcen?» Und auch hier kann eine Psychosoziale Beratung unterstützen, indem sie uns hilft, stimmige Antworten aus uns selbst zu finden und die eigene Wahrnehmung und Bewusstheit auf ein neues Niveau anzuheben.
Wenn ein «L» also prägnant und vielleicht hartnäckig immer wieder im Vordergrund auftaucht, ist das kein Grund zu verzweifeln. Es kann ein Zeichen dafür sein, eine Einladung auch, dass wir «reif» für eine Psychosoziale Beratung sind.